Energica Experia im ersten Test - Elektro trifft Reise

Mehr Federweg, neuer Motor, Windschutz - reicht das?

Oft gefordert, jetzt geliefert: Ein Elektromotorradtest in den Alpen. Diesem stellt sich der neueste Wurf des italienischen E-Herstellers Energica. Die als Reisemotorrad konzipierte Experia stellt sich dieser Herausforderung im Herz der Dolomiten.

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Am Anfang war das Herz - In der Experia werken Akku und E-Motor der neuesten Generation

Die E-Mobilität ist ein schnelllebiges Feld. Erst vergangenes Jahr stellte Energica einen neuen Motor vor. Dennoch sprechen die Ingenieure des 2014 in Modena gegründeten Elektrospezialisten und (Noch-)MotoE-Lieferanten beim Antrieb des Reisemotorrads von einer kompletten Neuentwicklung. Um das Einordnen zu können, muss man hinter die Kulissen blicken. 2021 wurde Energica von der US-Unternehmensgruppe Ideanomics übernommen. In deren Portfolio finden sich einige Firmen mit massig Know-How am Sektor des elektrischen Vortrieb, Energica als Zweiradspezialist passt da wunderbar ins Bild.

Das Ergebnis, der neue EMCE-Motor der zweiten Generation und die neue Batterie, die mit einer Kapazität von nun 22,5 kWh (19,6 kWh nominal) die größte am Markt ist, kann sich sehen lassen. Das Gewicht beider Bauteile konnte im Vergleich zu den jeweiligen Vorgängern gesenkt werden. In Summe wurden über 20 Kilogramm eingespart. Aufgrund der Ladeleistung von maximal 24 kW beträgt die Ladedauer von 0-80% an einem Level 3 / DC-Schnellladegerät rund 40 Minuten. Energica ist der einzige Hersteller am Markt, der neben dem Schnellladen auch mit Level 2 (240 V) und Level 1 (120 V) anbietet um, etwa über Nacht an der Haushaltssteckdose aufladen zu können.

Der ebenfalls neu entwickelte Motor mit dem klingenden Kürzel PMASynRM (Permanentmagnet-unterstützter Synchron-Reluktanzmotor) bietet eine Spitzenleistung von 102 PS und eine Dauerleistung von 80 PS, das Drehmoment liegt bei 115 Nm und das ab Stillstand. Die Beschleunigung ohne Schaltvorgänge ist immer noch eine Wucht, von 0-100 gibt Energica 3,5 Sekunden an. Bei 180 km/h ist die Energica Experia abgeriegelt.

Reicht die Reichweite der Energica Experia für eine durchschnittliche Tagestour?

Die neue Experia soll die höchste Reichweite unter allen Elektromotorrädern bieten. Laut Energica liegt die Reichweite im reinen Landstraßenbetrieb bei 208 km, kombiniert bei 256 Kilometer und im reinen Stadtverkehr bei 420 Kilometer. Auch der nach der WMTC-Methode ermittelte Wert, wie man ihn aus dem Automobilsektor kennt ist mittlerweile bekannt und beträgt 222 km.

Nun ist Papier ja bekanntlich geduldig, in den Dolomiten musste die Experia die Probe aufs Exempel antreten. In einer sportlich gefahrenen Vormittagsrunde von rund 60 km büßte die Batterie laut Anzeige rund 27% der Ladung ein, extrapoliert man diesen Strom-Verbrauch ergibt sich eine Reichweite von 222 km. Dies entspricht genau dem nach WMTC ermittelten Wert. Legt man das auf eine durchschnittliche Tagestour um ergibt sich ein brauchbarer Rhythmus. Nach 200 km am Vormittag lädt man während des Mittagessens den Akku wieder voll. Wer danach noch mehr als 200 km machen will, sollte sich irgendwo am Weg einen weiteren Schnelllader suchen, an dem er die Kaffeepause verbringt. So wandern noch ca. 30% in den Akku und die Tagestour darf bis zu 500 km lang sein. Über Nacht lädt man den Akku dann im Hotel schonend langsam voll. Die volle Leistung bietet die Batterie übrigens bis 10% Ladestand.

Tourenfahren mit der Energica Experia also möglich, sogar besser möglich als mit allen anderen E-Motorrädern am Markt, erfordert allerdings immer noch mehr Koordination und Planung, als mit einem Verbrenner-Motorrad.

Die Ausstattung der Energica Experia ist auf Oberklasse-Niveau

  • Tempomat
  • Rückwärtsgang
  • Kurven-ABS neuester Generation von Bosch
  • 330 mm Brembo Doppelscheibe mit 4 Kolben-Monoblock Bremsanlage
  • Traktionskontrolle (8-stufig einstellbar, abschaltbar)
  • voll-einstellbare Gabel
  • Federbein in Zugstufe und Vorspannung einstellbar
  • 5 Zoll TFT Display 7 Fahrmodi (ECO, Urban, Sport, Rain, 3 frei)

Fahreindrücke Energica Experia - Reise-Enduro, Crossover, oder doch Sporttourer?

Die Experia einzuordnen bzw. in eine Lade mit Verbrennermotorrädern einer gewissen Klasse zu stecken, fällt schwer. Für einen Sporttourer sprechen die Reifendimensionen, sie ist aber mit 260 Kilogramm wohl etwas zu schwer, für eine Reiseenduro fehlt es ihr an Federweg und Bodenfreiheit und auch wenn man Pirelli Scorpion Trail 2 als Erstbereifung gewählt hat, würde ich von Geländeetappen dringend abraten, einfache Schotterwege sind hingegen kein Problem. Bleibt noch die von mir als Kategorisierung nicht sonderlich geschätze Bezeichnung Cross-Over, da hier einfach alles reingeworfen wird, was woanders keinen Platz hat. Wenn ich ein vergleichbares Verbrennermotorrad nennen müsste, wäre es die Kawasaki Versys 1000 S, wobei die Experia durch den tiefen Schwerpunkt noch einen Ticken agiler ist.

Kommen wir zu den Punkten, wo die Energica einfach Spaß machen darf, ohne Gedanken an Ladesäulen und Reichweiten, denn der Fahrbetrieb auf einem E-Motorrad ist immer etwas besonderes. Die nackten Leistungsdaten, vermögen nicht darzustellen, wie intensiv man die Beschleunigung auf der Experia erlebt. Die ausgezeichnet abgestimmte Traktionskontrolle erlaubt es dem Piloten, ohne schlechtes Gewissen, vehement am Griff zu drehen. Was sich dann abspielt, ist immer wieder spektakulär. Reiner Vortrieb ab 0 km/h ohne Zugkraftunterbrechung.

Die Leistungsabgabe erfolgt zu 100% linear, die "Gasannahme" ist super angenehm. Ab 120 km/h nimmt der vehemente Vortrieb,etwas ab, in den Dolomiten fällt das nicht weiter ins Gewicht, schließlich gelten auf weiten Strecken Tempo 60. Ein echter Vorteil aller E-Motorräder ist auch, dass sie auf 2000 Meter gleich viel Leistung bieten wie im Tal, da hier keine Explosionen im Motor stattfinden, die auf den in der Luft zur Verfügung stehenden Sauerstoff angewiesen sind.

Speziell in Spitzkehren sind die erwähnten Vorzüge ein echter Genuss, die Energica Experia bietet zudem genug Schräglagenfreiheit, sodass man hier wahrlich keinen Gegner fürchten muss. Ein sinnvolles Feature sind die drei frei konfigurierbaren Modi. Insbesondere im Gebirge ist es beispielsweise sinnvoll die höchste Stufe der Motorbremswirkung = Rekuperation mit der höchsten Leistungsstufe zu kombinieren. Im vorkonfigurierten Sportmodus ist die Rekuperation nämlich auf der schwächsten Stufe, dem sogenannten Segeln. Mit der maximalen Rekuperationsstufe kann es schon einmal vorkommen dass nach der Abfahrt von der Passhöhe ein paar Prozent Batterieladung in den Akku zurückgeflossen sind, außerdem wird die Bremse geschont.

Bremse und Fahrwerk der Energica Experia werken auf hohem Niveau

Die Bremsanlage auf der Experia stünde auch einem Sportmotorrad gut zu Gesicht. Unglaublich wie hart sich die Monoblock-Bremszangen in die 330 mm Doppelscheibe verbeißen. Da kann das Heck ganz schnell einmal leicht werden. Dank des klaren Druckpunkts, der einfachen Dosierbarkeit und nicht zuletzt des Bosch-ABS der neuesten Generation wird es jedoch niemals gefährlich.

Auch die Federelemente an der Experia halten gut mit der Performance des Antriebs und der Verzögerungseinheit mit. Die Federwege von vorn und hinten 150 mm lassen einen souverän über die unebenen Bergstraßen gleiten. Die Sachs-Gabel ist voll einstellbar, das Federbein in Zugstufe und Vorspannung. Letztere leider nicht bequem per Handrad, sondern oldschool mittels Hakenschlüssel, das würde man sich 2022 anders wünschen. Generell ist für alle Einstellarbeiten am Fahrwerk Werkzeug von Nöten, wodurch ich das eingestellte Grundsetup, das mir etwas zu weich geraten war auf der kurzen Testrunde nicht adaptieren konnte.

Auf Nachfrage ließ sich Energica im Bezug auf künftige Entwicklungen etwas in die Karten schauen: ein E-Fahrwerk ist in Planung. Ein solches würde wunderbar zur Experia passen und somit die Einstellproblematik mit einem Mal vom Tisch wischen. Höheres Gewicht und Kosten, die damit einhergehen würden, konnte man aktuell noch nicht kommentieren.

Die Experia ist ein würdiges Touringbike, auch zu zweit!

Wer schon einmal eines der aktuell erhältlichen Energica-Modelle gefahren ist, weiß, dass man es bis dato mit der Soziustauglichkeit nicht wirklich ernst genommen hat. Meine dahingehenden Versuche auf der EVA Ribelle endeten nach ungefähr 5 Minuten. Aber auch hier hat man ein komplett neues Kapitel aufschlagen können. Erstens bietet die Sitzbank auch für den Sozius viel Komfort und Platz, der Kniewinkel ist entspannt und durch den keilförmigen Abschluss gegen den Fahrer und das griffige Material, gibt es auch kein Vorrutschen beim Bremsen. Zweitens bietet die Experia eine Zuladung von 242 Kilogramm und befindet sich damit im Spitzenfeld aktueller Reisemotorräder wieder. Drittens bieten die in Kooperation mit Givi entwickelten Seitenkoffern samt Topcase nicht weniger als 112 Liter Stauvolumen und damit genug Platz für eine ausgedehnte Tour zu zweit.

Die Launch Edition verfügt zudem über Handguards und Heizgriffe, aus meiner Sicht zwei Pflicht-Extras, wenn man ernsthaft ans Reisen mit dem Motorrad denkt und wird somit trotz des Mehrpreises von rund 2000 Euro zu einer echt interessanten Option. Der Kriechgang, der vorwärts und rückwärts funktioniert ist hingegen schon in der Standard-Version serienmäßig und erleichtert das Rangieren, insbesondere bei voller Beladung, erheblich.

Ein echtes Manko aller Energicas, das leider auch bei der brandneuen Experia nicht ausgemerzt wurde: Ein sicheres Abstellen des Motorrades ist mangels herkömmlichen Getriebes und Feststellbremse nur in der Ebene möglich. Zwar hat sich der Zubehörmarkt der Problematik schon angenommen, es bleibt jedoch unverständlich, warum sich der Hersteller hier nicht eine serienmäßige eigenständige Lösung überlegt.

Gelungene Ergonomie bei Energicas Reise-Erstlingswerk

Der Windschutz auf der Experia ist bis zur Körpermitte gut, der Windschild mit absolut praxistauglichem Verstellmechanismus, aber wenig Verstellspektrum, ist etwas schmal geraten. Dadurch wir ich bei einer Körpergröße von 1,87 Metern an Schultern und Kopf zum Teil Wind und Wetter ausgesetzt. Im Zubehör wird es voraussichtlich weitere Varianten geben. Ergonomisch ist Energica mit ihrem ersten Reisemotorrad ein großer Wurf gelungen. Der Kniewinkel ist zwar auf der spitzeren Seite, die Breite und Positionierung des Lenkers allerdings goldrichtig gewählt und die Sitzbank hat genau die richtige Mischung aus bequem und straff. Die Sitzhöhe von 847 mm wirkt am Papier bedrohlicher als sie es in der Praxis ist, durch den schmalen Sattel ergibt sich ein relativ geringes Schrittbogenmaß. Auch das Bedienkonzept gibt keine Rätsel auf, wenngleich die Schriftgröße im TFT Display relativ klein gewählt wurde.

Preise und Verfügbarkeit Energica Experia - weltweit ident

Der Preis der Energica Experia für Österreich, Deutschland und die Schweiz (und den Rest der Welt, mit Ausnahme der USA) beträgt 23.685 Euro zzgl. Mehrwertsteuer. Die ab September 2022 - anfangs exklusiv - erhältliche Launch-Variante wird 25.590 Euro ohne Steuer kosten. In Österreich kommt man somit auf einen Einstandspreis von knapp über 30.000 Euro. Auf der EICMA 2022 kommen dann weitere Varianten der Experia. Im Lieferumfang ist das Ladekabel für Haushaltssteckdosen enthalten. Schnellladefähige Kabel (etwa mit CCS2 Stecker) kosten je nach Hersteller ca. 250-500€.

Fazit: Energica Experia 2022

Die Energica Experia lässt Reisen mit dem E-Motorrad zum Greifen nahe wirken. Sie ist ein ziemlich ausgereiftes, praxistaugliches Reisemotorrad. Noch zu einem relativ hohen Preis und mit Verbesserungspotenzial da oder dort, in Summe aber ein potentes Ausrufezeichen - Chapeau!


  • angenehmes Ansprechverhalten
  • beeindruckende Beschleunigungsleistung
  • üppige Ausstattung
  • tolle Bremsen
  • einzig würdiges E-Reisemotorrad am Markt
  • Rückwärtsgang
  • gelungene Ergonomie
  • keine Feststellbremse
  • Federvorspannung hinten nicht per Handrad verstellbar
  • hohes Gewicht
  • hoher Preis

Bericht vom 21.06.2022 | 22.580 Aufrufe